Kurt Dutz DE-3 1.Semesterklausur - Problemerörterung - geschrieben am 03.04. 2001

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Die Figur der Marquise

Grundlage dieser Erörterung ist ein Textauszug aus einem 1979 erschienenen Werk von Ingeborg Scholz, das "Interpretationen und methodisch - didaktische Hinweise" zu diversen Arbeiten Heinrich von Kleists zum Inhalt hat.

Die Autorin schreibt über dessen Novelle "Die Marquise von O...", dass das Erschütternde an dieser Geschichte", das Nebeneinander von Engel und Teufel" in der Figur des Grafen sei, in welcher der Dichter "das Göttliche und das Teuflische" in der menschlichen Natur verklammere.

Im Weiteren versucht sie die ablehnende Haltung der Marquise, die diese, als ihr der "teuflische Aspekt" des Grafen erstmals bewusst wird, an den Tag legt, zu deuten. Antworten, die der "normative Geist" oder die Psychologie auf diese Frage geben könnten, werden - rhetorisch hinterfragt - beiseite geschoben.

Weder sei "Überspannung des Gemüts" Handlungsgrundlage des "Kleistschen Menschen", noch sei des Rätsels Lösung nur in verdrängten Komplexen zu finden vielmehr blicke die Marquise in einen Zerrspiegel des Irdischen, in dem der bisher ihr engelsgleich erschienene Graf nunmehr "verzerrt und schief erscheine.

Diese "fürchterlichen Täuschungen", so führt die Autorin nun aus, seien es, die den Kleistschen Menschen in den Wahnsinn trieben.

Anschließend stellt sie die zumindest an dieser Stelle nicht weiter nachgewiesene Behauptung auf, dass wir wüssten, es also allgemein bekannt sei, "dass in Leben und Werk dieses Dichters die tiefsten Erschütterungen aus beleidigtem Vertrauen" kämen, was auch hier als Erklärung für den "Bodenlosen Zusammenbruch der Marquise", vollkommen genüge.

So versimplifiziert die Herleitung dieses Urteils ist, so übertrieben erscheint es selbst, denn der "Zusammenbruch" der Marquise ist ja keineswegs vollständig, so dass man ihn mit Recht als bodenlos bezeichnen könnte. Auch ist die Formulierung, dass die tiefsten Erschütterungen aus beleidigtem Vertrauen entstünden, zwar keineswegs abwegig, aber meiner Meinung nach nicht zureichend.

Ist es denn nicht vielmehr so, dass Kleists Figuren, im Allgemeinen gesehen, an der Erkenntnis, dass Ideal und Wirklichkeit sich als unvereinbar erweisen, verzweifeln?

Sind es nicht sie selbst, die sich täuschen und muss das "beleidigte Vertrauen" nicht vielmehr als beleidigtes Selbst-Vertrauen angesehen werden?

Ich meine: ja, und diese wichtige Differenzierung zwischen "sich täuschen" und "getäuscht werden" wird von Ingeborg Scholz leider nicht vorgenommen.

Es stellt sich ferner die Frage, ob es denn tatsächlich der Mensch ist, der hier zusammenbricht, oder nicht vielmehr dessen Welt bzw. Weltbild.

Es ist doch keineswegs so, dass der Graf der Marquise nun, nachdem sie erfahren hat, dass ausgerechnet er, der rettende Engel, es war, der ihr gegen (bzw. ohne) ihren Willen "beigewohnt" hatte, weiterhin als ein, wenn auch verzerrter Engel erscheinen musste.

Das Bild, welches sich die Marquise vom Grafen gemacht hatte entpuppt sich nunmehr als gravierend mangelhaft. Da aber einem jeden Individuum das Wesen anderer Individuen stets nur bruchstückhaft und mittelbar zugänglich ist, entsteht ein ganz wesentlicher Teil dessen, was ein Mensch für einen anderen ist (oder besser: zu sein scheint) in der Phantasie des Betrachters. Es ist dem Betrachteten also im Grunde genommen ganz "unwesentlich".

Dieses gilt ganz besonders in Bezug auf Menschen, die man zu lieben meint; der an sich schon liebenswerten "Kernerscheinung" wird man sicherlich eher noch liebenswertere imaginäre Attribute beifügen wollen.

Der an sich dem Grafen zugeneigten Marquise enthüllt sich hier nun ein "realer" Mensch, der in krassem Widerspruch zu ihrem subjektiven und sicherlich stark idealisiertem (von Liebe verzeichnetem?) "Image" dessen, was der der Graf für ein Mensch sei, steht.

Dieser Widerspruch ist stark genug, die innere Ordnung des subjektiven Weltbildes nachhaltig ins Wanken zu bringen, ja, es wankt heftig genug, dass man hier von einem zumindest partiellen Zusammenbruch reden kann.

Die Folge dieses plötzlichen Zusammenbruchs kann aber nur Orientierungslosigkeit und damit, zumindest vorläufige, Handlungsunfähigkeit sein.

Wenn also die Marquise ihre Zustimmung den Grafen zu heiraten verweigert und das Zimmer geradezu fluchtartig verlässt, ist das letztlich Beleg dafür, dass sie sich im Klaren darüber ist, dass ihr die Grundlage für sofortiges Handeln in diesem Moment nicht gegeben ist. Die soeben geoffenbarten negativen Aspekte des gräflichen Wesens nehmen vorübergehend den ganzen in der Vorstellung der Marquise quasi für den Grafen reservierten Raum ein. Der Platz reicht nicht für dessen jetzt so stark erweiterte Erscheinung und der - fälschlich vermutete - reine Engel muss vorübergehend seinen Platz zugunsten eines ebenso fiktiven reinen Teufels räumen.

Im Laufe der Zeit finden aber beide Aspekte Platz in der Vorstellung der Marquise - sie werden gewissermassen austariert, mit dem Ergebnis, dass der Graf zunächst zu einer erträglichen, später sogar zu einer wohl an sich liebenswerten Person im Bewusstsein der Marquise neu geschaffen wird.


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