Freie Universität Berlin
FB Philosophie und Geisteswissenschaften
SoSe 2003
Hausarbeit zum Proseminar "Arthur Schopenhauer: Preisschriften über die Grundprobleme der Ethik"

Dozent: Hanns Peter Neumann
Autor: Kurt Dutz. Soziologie 3.Sem., Phil. 1.Sem.

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Frei sein oder frei werden?

Überlegungen zur Freiheit in physischer und metaphysischer Hinsicht
im Ausgang vom Freiheitsbegriff Schopenhauers.



 

Inhalt

1. Präludium

2. Schopenhauers Definition des Begriffs Freiheit

3. Erster Diskurs - Semantisch

4. Zweiter Diskurs - Empirisch

5. Dritter Diskurs - Metaphysisch

6. Zufall und Notwendigkeit - Ein physikalischer Exkurs

7. Vierter Diskurs - Wollen

7.1 Ursprung des Wollens

7.2 Richtung des Wollens

7.3 Wünschen und Wollen


8. Bedingung oder Willkür?

9. Schluss: Gibt es eine spezifisch menschliche Art der Freiheit?

10. Literatur


1. Präludium top

Dass der Mensch frei sei oder doch zumindest frei sein kann, scheint das schlechthin Selbstverständlichste der Welt zu sein. In den Verfassungen praktisch aller modernen (demokratischen) Staaten ist so auch Freiheit der elementare und zentrale Begriff schlechthin; Freiheit gilt als Basis des Gemeinwesens und gleichzeitig als dessen höchstes Ziel. Allein in der Präambel der UN Menschenrechtserklärung findet er sich sieben Mal und deren erster Artikel setzt geradezu voraus, dass Freiheit etwas dem Menschen von Natur her Eigenes sei, denn, so heißt es:
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen." (FN1.1)
Der Begriff der Freiheit ist hier ganz eindeutig positiv, als grundlegende Gegebenheit gesetzt. Freiheit ist der Zustand, in dem der Mensch in die Welt tritt, und folglich tritt der Zustand der Unfreiheit ein, wenn ihm die Freiheit genommen wird.(FN1,2) Und: diese Freiheit ist nicht "unbedingt", denn sie geht mit einem "Sollen" einher!


(FN1.1) Siehe hierzu auch Rousseau: "Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie." (1762) Rousseau 1958 S.30

(FN1,2) Kann man "sich" die Freiheit eines anderen "nehmen"?


2. Schopenhauers Definition des Begriffs Freiheit top

Arthur Schopenhauer definiert in seiner "Preisschrift über die Freiheit des Willens" die empirische Freiheit als etwas ursprünglich Negatives, weil sie "durch Abwesenheit von Hinder- und Hemmnissen", die (weil "Kraft äußernd")(SW)S.177 , als das Positive anzusehen seien, gedacht werde. Der unterschiedlichen Beschaffenheit dieser Hemmnisse gemäß zerfalle der Begriff Freiheit in drei Unterarten, und zwar in die "physische, intellektuelle und moralische Freiheit" SW S.177. Die physische Freiheit sei infolge der Abwesenheit rein physischer (materieller) Hindernisse gegeben. Als Beispiele führt Schopenhauer Wendungen, wie "freie Aussicht, freie Luft, freies Feld, freie Wärme (die nicht chemisch gebunden ist), freie Elektrizität freier Lauf des Stroms, wo er nicht durch Schleusen oder Berge gehemmt" sei, aber auch die "freie Wohnung, freie Kost, freie Presse " oder den "postfreie[n] Brief" .an.SW S.177 f

Am häufigsten jedoch, so führt er weiter aus, finde sich in unserem Denken "der Begriff der Freiheit [als] das Prädikat animalischer Wesen, deren Eigentümliches ist, daß ihre Bewegungen von ihrem Willen ausgehen, willkürlich sind und demnach alsdann frei genannt werden, wann kein materielles Hindernis dies unmöglich macht" und somit als "ursprünglichste, unmittelbarste und [...] allerhäufigste Realität" SW S.178 , die durch allgemeine "Erfahrung beglaubigt" und deshalb wenig kontrovers sei. Auch die politische Freiheit zählt Schopenhauer der physischen bei.

Alle empirisch beobachtbare Freiheit ist demnach eine bloße Freiheit zu können " was man will", ohne Rücksicht darauf, was Einfluss auf den Willen haben könnte. Hierzu heißt es, dass der ursprüngliche Begriff von Freiheit ja "dem eigenen Willen gemäß " SW S.180 bedeute. Also sei man frei zu tun, was man will, aber - so wird nun gefragt - sei man auch frei, zu wollen, was man will? Könne man also wollen, was man wollen will, usf. ad infinitum? Verkürzt: " kannst Du wollen?" SW S.180  Es stellt sich also die Frage, ob wollen ein Vermögen, wie etwa gehen oder sprechen ist.

Um den Begriff der Freiheit überhaupt auf den Willen anwenden zu können, habe man ihn jedoch abstrakter fassen müssen, was dadurch geschehen sei, dass "man durch den Begriff der Freiheit nur im Allgemeinen die Abwesenheit aller Notwendigkeit dachte." "Notwendig" aber sei, "was aus einem gegebenen zureichenden Grunde folgt" und "alle Gründe sind zwingend" (FN2.1).- "Demnach wäre Abwesenheit der Notwendigkeit identisch mit Abwesenheit eines bestimmten zureichenden Grundes." SW S.181

Als Gegenteil des Notwendigen werde das Zufällige gedacht. In der Realität, "wo allein der Zufall anzutreffen [ist]", sei jede Begebenheit zwar hinsichtlich ihrer (direkten) Ursache notwendig, gleichwohl aber hinsichtlich ihrer raumzeitlichen Position in der "Gesamtkonfiguration Welt" zufällig.

Das Freie müsste demnach - infolge der Abwesenheit aller Gründe - das absolut Zufällige, das Schopenhauer als höchst problematischen Begriff, den er nicht verbürgen könne, ansieht, "der jedoch sonderbarerweise mit dem der Freiheit zusammentrifft", sein. "Jedenfalls bleibt das Freie das in keiner Beziehung Notwendige, [...] von keinem Grunde Abhängige." SW S.181f.  Auf den Willen des Menschen angewandt würde dieser Begriff "besagen, dass ein individueller Wille in seinen Äußerungen (Willensakten) nicht durch Ursachen, oder zureichende Gründe überhaupt, bestimmt würde; da außerdem, weil die Folge aus einem gegebenen Grunde [...] allemal notwendig ist, seine Akte nicht frei, sondern notwendig wären." SW S.182

Folgten wir nun der hierauf beruhenden Kantschen Definition der Freiheit als eines Vermögens "von selbst" eine Reihe von Veränderungen anzufangen - "ohne vorhergegangene Ursache ", also "ohne Notwendigkeit", nach welcher ein freier Wille ein solcher wäre, der durch gar nichts bestimmt würde, sondern "dessen Akte schlechthin und ursprünglich aus ihm selbst hervorgingen, ohne durch vorhergängige Bedingungen notwendig herbeigeführt" worden zu sein, gehe uns aber "das deutliche Denken deshalb aus, weil der Satz vom Grunde", als Grundlage des gesamten Erkenntnisvermögens hier aufgegeben werden müsste.

Mögliche Willensfreiheit könne, so schließt Schopenhauer seine Betrachtungen ab, einzig durch den Begriff " liberum arbitrium indifferentiae" bestimmt werden, dessen " nächste, diesen Begriff selbst charakterisierende Folge" sei, "dass einem damit begabten menschlichen Individuo, unter gegebenen, ganz individuell und durchgängig bestimmten äußern Umständen, zwei einander diametral entgegengesetzte Handlungen gleich möglich sind".

Genau das aber ist, wie im dann Folgenden nachzuweisen versucht wird, ganz und gar unmöglich, weshalb Schopenhauer (insgesamt) zu der Ansicht gelangt, mit der er das dritte Kapitel der "Metaphysik der Sitten" einleitet: "Daß der Wille als solcher frei ist, folgt schon von selbst daraus, dass er das Ansich, der Gehalt aller Erscheinungen ist. Die Erscheinungen hingegen kennen wir als durchweg dem Satz vom Grund unterworfen, in seinen vier Gestaltungen: und da wir wissen, daß Nothwendigkeit durchaus identisch ist mit Folge aus gegebenem Grunde und beides Wechselbegriffe sind; so ist alles was zur Erscheinung gehört, d.h. Objekt für das als Individuum erkennende Subjekt ist, einerseits Grund, andrerseits Folge eines anderen, und in dieser letztern Eigenschaft durchweg nothwendig bestimmt und kann in keiner Beziehung anders seyn als es ist". Schopenhauer 1988 S.77  Aber die "Person als solche ist nicht frei, obwohl sie Erscheinung eines freien Willens ist. Denn eben von diesem freien Wollen ist sie die bereits determinierte Erscheinung." Ebd S.79

Beide oben diskutierten Freiheitsbegriffe, sowohl der positive als auch der negative, teilen das Merkmal, dass sie ontologisch gefasst sind. Freiheit ist oder ist nicht. Und zwar als entweder von vornherein gegeben oder als hinzutretend. Es wird in beiden Fällen nicht berücksichtigt, dass etwas sowohl frei in einer Hinsicht als auch unfrei in anderer Hinsicht sein könnte und dass dieses Verhältnis ein veränderliches sein könnte.


(FN2.1) Die Art der Gründe wird an dieser Stelle von Schopenhauer auch - entsprechend seiner Dissertation "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde" - nach Gründen logischer, mathematischer oder physischer Natur unterschieden also nach den Gründen des Erkennens (logisch, 2. Wurzel), des Seins (mathematisch, 3. Wurzel) und des Werdens. (physisch 1. Wurzel). Es fällt auf, dass die vierte Wurzel, der Grund des Handelns, hier (noch?) nicht angesprochen wird.


3. Erster Diskurs - Semantisch top

Das Dilemma beginnt eigentlich schon mit der Kapitelüberschrift "Begriffsbestimmungen". Es geht darum, eine Bestimmung - denn nichts anderes ist ja ein Begriff - weiter zu bestimmen, d.h. seine Grenzen zu fixieren.

Begriffe enthalten (als Nomina) das Wesen einer Sache und potentiell alle ihrer möglichen Ausprägungen. Begriffe sind prinzipiell "flexibel". Werden sie näher spezifiziert, geht das auf Kosten ihrer Allgemeingültigkeit. Zu weit gefasst werden sie beliebig. Dazu kommt, dass gleiche Begriffe - kontextabhängig - verschiedene Sachverhalte beschreiben können. Ein Hund ist allgemein als ein vierbeiniges Säugetier von der Art der Caninen bekannt, als Hund wird aber auch eine einfache Transporthilfe, die aus einem Brett mit vier Laufrollen besteht, bezeichnet.

Der Begriff der Freiheit als Abwesenheit des Notwendigen, also des Bedingenden, gefasst, enthält das unauflösliche Problem, dass er - als Begriff - an sich schon Bedingung ist, denn er dient der Unterscheidung, setzt also Grenzen und damit "Hemmnisse". Der Inhalt des Begriffs Freiheit sprengt die Form - er kann nicht eigentlich in einen scharf umgrenzten Begriff gefasst werden, da er solcher Fassung eo ipso widerspricht, und zwar um so mehr, je genauer - und damit enger - man ihn zu bestimmen versucht. Begriffe enthalten aber nicht wirklich Tatsachen, sondern Möglichkeiten. Wir sehen z.B. einen Baum nicht wie er ist, sondern wie wir ihn uns ausmalen. D.h. wo immer wir ein Ganzes sehen, müssen wir seine Teile imaginieren, und wo immer wir ein Teil klar erfassen, bleibt der Blick auf das Ganze uns verschlossen. Die Freiheit pflegen wir allerdings (ontologisch) als eine Art reduzierbares, gleichwohl nicht zusammengesetztes, Ganzes aufzufassen. Sie scheint sich mit dem Betrachtungsabstand nicht zu ändern. Einerseits können wir keine Teile nennen, aus denen sie sich zusammensetzt und ihre Vollständigkeit erhält, andererseits scheint es sie auch in unvollständiger, also reduzierter Form ganz zu geben. Wir reden von Freiheitsgraden, Freiheitsbeschränkungen, Freiheitsentzug. Der Begriff der Freiheit kann also nie vollständig bestimmt werden; er kann nur, als Andeutung genommen, gedeutet werden.


4. Zweiter Diskurs - Empirisch top

Schopenhauers Definition der physischen Freiheit ist eher idealistisch als empirisch, denn sie nimmt stillschweigend eine Fülle von Hemmnissen in Kauf, die erst die Bedingung dafür sind, dass etwas sich frei bewegen kann. Auch seine allgemeine, abstrakte Definition der Freiheit als gegeben durch die Abwesenheit jeglicher Notwendigkeit, ist in sofern problematisch, als dass sie so faktisch aus der realen Welt, in der der Satz vom Grunde gilt, allgemein und keineswegs nur auf den Willen bezogen ausgeschlossen wird.

Eine allgemeine abstrakte Fassung des Freiheitsbegriffes muss Notwendigkeiten einschließen und könnte in etwa wie folgt lauten:

Frei ist etwas Bestimmtes dann, wenn es sich seinem Wesen - als der Summe seiner konstituierenden Bestimmungen, durch die es ist und durch die es sich erhält - gemäß in selbstbestimmter Weise bewegen kann. (FN4.1)

In dieser Bestimmung stecken mehrere Faktoren, durch die sich Freiheit konstituiert: Bewegung (Zeit - Raum - Richtung - Ziel), Verschiedenheit (Bestimmtes, Vielheit, Differenz), Wesen (unabdingbare Bestimmungen, Vereinigung). Ein so gefasster Freiheitsbegriff wäre ein eher teleologischer, dynamischer.

Eine ähnliche Fassung finden wir bei Spinoza:

"Ich nenne nämlich die Sache frei, die aus der bloßen Notwendigkeit ihrer Natur besteht und handelt, und gezwungen nenne ich die, welche von etwas anderem zum Dasein und Wirken in genauer und fester Weise bestimmt wird." Spinoza in einem Brief aus dem Jahre 1674, zitiert nach Hamprecht. 2001
So könnte man zu der Einsicht gelangen, dass Freiheit und Notwendigkeit einander weder ausschließen noch widersprechen, sondern dass Freiheit nur innerhalb der Notwendigkeit bestehen kann, denn das bestimmte Etwas selbst - das begrifflich Fass- und Fixierbare, das sich frei bewegt - ist in sich ein Nexus von Notwendigkeiten und Zwängen. Seine Bestandteile können sich nicht "frei" bewegen, ohne dass es als dieses bestimmte Etwas vernichtet würde. Allgemein könnte man sogar sagen, dass mit der Notwendigkeit auch die Freiheit "notwendig" aufgehoben würde.

Aber auch die Außenwirkung des als "frei bestimmten" ist durch und durch von Notwendigkeiten (man sollte vielleicht gar von Nötigungen reden)(FN4.2) gekennzeichnet.

Kein Wesen und kein "Ding" ist also vollkommen frei von Hinder- und Hemmnissen, jedes ist selbst schon ein Hemmnis und (ver)hindert dasjenige, was es selbst nicht ist und sonst sein könnte. Es reduziert die Möglichkeiten anderen Seins.

Um Schopenhauers eingangs angeführte Beispiele zu bemühen: Die Körperwärme ist nicht frei, die Hirnströme können nicht "ungehindert" fließen. Die Freiheit endet dort, wo etwas Bestimmtes, und damit in sich Unfreies, sich erhalten will. Bedingung an sich ist Bedingung, dass etwas überhaupt "frei" sein kann.

Unfreiheit (Gebundenheit) ist die elementare Bedingung differenzierter Existenz (Verschiedenheit) und damit der Existenz von Möglichkeiten. Dass es Möglichkeiten, also eine Wahl, und sei es nur die Wahl der Richtung, gibt, ist die notwendige Bedingung der Freiheit. Zusammenschließen ist Bedingung des Auseinandertreten-Könnens, Festhalten Bedingung des sich - als in sich Festgehaltenem - Lösen-Könnens. Man könnte sagen, wenn man etwas will und ungehindert versuchen kann es zu erlangen, sei man frei. Hieße das aber auch, dass man frei sei, wenn man nichts will?

"Man muss wissen, dass der Kampf das Gemeinsame ist und das Recht der Streit, und das alles Geschehen vermittels des Streites und der Notwendigkeit erfolgt." Heraklit von Ephesos nach Seidel 1980 S.75



(FN4.1)oder auch: "Freiheit herrscht dann, wenn ein bestimmtes Wesen sich nicht durch bestimmte Hindernisse in seiner selbstbestimmten Bewegung gehemmt sieht."

(FN4.2 ) Auch hier zeigt sich deutlich, wie sehr schon das Wort - der Begriff - Zwang ausübt.


5. Dritter Diskurs - Metaphysisch top

Die Freiheit allein dem Metaphysischen zuzuschreiben bietet keine Lösung, da das Metaphysische in sich für uns nicht unterscheidbar ist. Es bietet keine Möglichkeit einer analytischen Betrachtung und ebenso absurd wäre eine synthetische, also der Versuch, es aus verschiedenen Begriffen (Wille, Freiheit etc.) zusammensetzen zu wollen. Das Metaphysische verhält sich dem Begriff gegenüber wie ein schwarzes Loch gegenüber den Formen von Energie und Materie, man weiß, was hineinging, aber man weiß nicht, zu was es dort wird, und man kann es nicht wieder aus ihm hervorholen. Wer die Freiheit ins Metaphysische legt, hat sie im Grunde ganz aufgegeben, denn dort ist sie gleichgültig. Sie fällt mit allem zusammen, was man sonst noch hineinzuspekulieren in der Lage ist: Gott, Weltgeist, Freiheit, Wille - alles ist Eins.
"Eins hat nichts in sich, das wollen kann, es dupliere sich denn, daß es Zwei sei; so kann sichs auch selbst in der Einheit nicht empfinden, aber in der Zweiheit empfindet es sich ... Kein Ding ohne Widerwärtigkeit mag ihm selber offenbar werden, denn so es nichts hat, das ihm widerstrebe, so gehet's immerdar für sich aus und gehet nicht wieder in sich ein; so es aber nicht wieder in sich eingeht als in das , daraus es ist ursprünglich gegangen, so weiß es nichts von seinem Ur-Stand." Bloch 1977 S. 83
So Jakob Böhme (1575 bis 1624), laut Ernst Bloch "der erste objektive Dialektiker nach Heraklit".

Wenn überhaupt, dann kann die Freiheit nur im "Auseinandertreten" des Physischen und des Metaphysischen aufgefunden werden. Wäre allein der metaphysische Wille, als das Substrat der empirischen "Welt als Vorstellung", frei, dann stünde es auch in seinem Belieben, sich die Freiheit zu nehmen, alle seine physischen Erscheinungen ad hoc aufzuheben. Freiheit kann möglicherweise weder in der nach dem "Satz vom Grunde" gestalteten physischen Welt noch in ihrem Jenseits allein gefunden werden.

"Sie begreifen nicht, dass es (das All-Eine), auseinanderstrebend mit sich selber übereinstimmt: widerstrebende Harmonie, wie bei Bogen und Leier." Heraklit von Ephesos nach Seidel 1980 S.76
Frei zu handeln bedeutet immer auch: Freiheit aufzuheben!


6. Zufall und Notwendigkeit - Ein physikalischer Exkurs top

In der makroskopischen Welt kann es, wenn das Kausalgesetz vollständige Gültigkeit besitzt, eigentlich keinen echten Zufall geben, da jedes Ereignis zumindest prinzipiell kausal erklärt werden könnte und verschiedene Kausalketten notwendig an bestimmten Punkten zusammentreffen müssten. Was unter solchen Bedingungen als Zufall bezeichnet wird, ist eigentlich nicht mehr als Unvorhersehbarkeit. D.h., es treffen mehr Kausalketten aufeinander als erwartet oder wahrgenommen werden konnte bzw. kognitiv nachgebildet werden können. Darum soll nun der Frage nachgegangen werden, ob neuere Erkenntnisse der Physik, und damit über den Aufbau der Welt, auch neue Einsichten in die Beschaffenheit von Zufall und Notwendigkeit zulassen.
"Man kann für ein Elektron, dessen Impuls man durch genaue Messung festgestellt hat, nicht den Ort angeben an dem es sich befindet; und zwar nicht aus Gründen mangelnden Experimentiergeschickes, sondern aus prinzipiellen Gründen. Die Natur stellt keine bestimmte Ausgangslage zur Verfügung, die Welt ist also gar nicht determiniert." Dorn-Bader 1976
Zu Schopenhauers Lebzeiten war die Newtonsche Physik das "non plus ultra". Erst das 20.Jahrhundert bescherte uns Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Seit Einstein wissen wir, dass Raum und Zeit keine festen Größen sind, sondern dynamische (ein Photon z.B. "altert" nicht), die durch die Einwirkung großer Energien oder Massen verzerrt werden können. Die Quantentheorie besagt: Ort und Impuls eines Teilchens sind nicht gleichzeitig beliebig genau feststellbar. Und: Der Energiesatz (E=mc2) kann kurzzeitig außer Kraft treten! Die fundamentalen Naturgesetze sind wesentlich zeitsymmetrisch, es gibt für sie keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der leere Raum (Vakuum) ist nicht leer, sondern ein Zustand niedrigster Energie, in dem laufend scheinbar aus dem Nichts Paare aus Teilchen und Antiteilchen(FN6.1) entstehen, die sich annihilieren und dabei Energie abgeben.

Die moderne Physik behauptet von sich dem Ursprung des Universums bis auf eine zehnmilliardenstel Sekunde nahe gekommen zu sein. An diesem Punkt verlören die physikalischen Gesetze für niedrige Energien, die im Universum valide seien, allerdings ihre Gültigkeit und man verstehe die Gesetze für hohe Energien (noch) nicht. (FN6.2) Professor Harald Lesch erklärte kürzlich in einer Sendung des Bayrischen Fernsehen, dass vor dem Urknall, also am "Nullpunkt" des Universums, eine unendliche Temperatur geherrscht habe. Was heißt das?

Nicht nur nach der Einsteinschen Gleichung E = mc2 bedeutet es zunächst einmal, dass es an diesem mathematisch ermittelten "Nullpunkt" keine Materie gab (FN6.3) , denn unendliche Temperatur, schließt alles was NICHT Temperatur (also Energie) ist per se aus. Daraus lässt sich - auch wenn es unser Vorstellungsvermögen zu sprengen droht -(FN6.4) folgern, dass es in diesem Zustand weder Raum noch Zeit gab, denn diese sind quasi Attribute der Materie. (FN6.40)

Alles was in diesem "Moment" existierte war ein unendliches, ununterscheidbares Potential, Alles und Nichts in Einem, das man statt als Eines wohl besser als unendlich0 beschriebe. Wo es aber keine Verschiedenheit gibt, gibt es auch kein Geschehen und keine Bedingungen, also keine Gründe - hier hat der pure Zufall sein Heim.

Es gab in diesem Potential jedoch ganz offensichtlich die Möglichkeit von Raum, Zeit und Materie - als eine von unendlich vielen Möglichkeiten, bei einer Wahrscheinlichkeit, die gegen Null tendieren dürfte (1: unendlich) - endlich zu erscheinen. Mit der Verwirklichung eben dieser einen aus unendlichen Möglichkeiten (FN6.5)wuchs, so kann man annehmen, auch die Wahrscheinlichkeit relativ bestimmter weiterer Verwirklichungen usf., so dass am "Ende" das Verhältnis sich umkehrt (unendlich :1) und alles Verwirklichte (nahezu) endlich bestimmt erscheint.(FN6.6)

Interessant ist ferner, dass die Heisenbergsche Unschärferelation auch im Bereich makroskopischer Objekte ihre Gültigkeit nicht verliert, wenngleich sie praktisch nicht mehr ins "Gewicht" fällt.

"Obwohl wir behaupten müssen,dass die Naturgesetze der Quantentheorie überall gelten, auch für die Erscheinungen des täglichen Lebens, so ist die klassische Physik doch in solcher Weise als Grenzfall in der Quantentheorie enthalten, dass bei der Beschreibung größerer Objekte die quantenmechanischen Züge des Geschehens nur eine untergeordnete Rolle spielen und schließlich im täglichen Leben praktisch ganz vernachlässigt werden können." Heisenberg 1967 S.37
Das heißt aber, dass es in allem Bestimmten einen - wenngleich unendlich kleinen - Rest an Unbestimmtheit geben muss, wir also nur in einer Welt unendlicher Wahrscheinlichkeit leben, nicht in einer Welt endlicher Gewissheit.
"Die Zeit kann keinen Anfang haben und keine Ursache kann die erste sein. Beides ist a priori gewiß, also unbestreitbar: denn aller Anfang ist in der Zeit, setzt sie also voraus; und jede Ursach, muß eine frühere hinter sich haben, deren Wirkung sie ist." SW Bd.6 S.106 (Fragmente zur Geschichte der Philosophie)
Der Nullpunkt unseres Universums kann, wie gezeigt, als dimensionslose Unendlichkeitunendlich0 Per Definition = 1!) beschrieben werden, d.h., er liegt nicht in Raum und Zeit, sondern Raum und Zeit liegen (zunächst nur der Möglichkeit nach) in ihm.

Aufgrund der Dimensionslosigkeit entzieht sich ein solcher Zustand jeder raumzeitlichen Bestimmung. Er kann ein (oder mehrere) Vorher haben oder auch nicht. Er kann ewig angedauert haben oder praktisch gar nicht, was uns, als an vier Dimensionen Gebundene, ohnehin gleich-gültig sein kann, da dieser Zustand jeder Anschaulichkeit entzogen wäre und uns somit ein unlösbares Rätsel bleiben müsste.

Wenn große Massen und Energien Raum und Zeit krümmen, dann folgt daraus, dass unendliche Energie Raum und Zeit unendlich krümmt, was man evtl. als ein In-Sich-Einziehen beschreiben könnte. Das aber könnte auch so aufgefasst werden, dass jedes Quantum endlicher Energie/Masse ein endliches Quantum Raumzeit aus sich entlässt, was wiederum bedeuten müsste, dass es, wo immer es Quanten gibt, auch Raum und Zeit geben muss. Damit wäre ausgeschlossen, dass irgendein Beobachter an die Grenze von Raum und Zeit gelangen könnte.

In der Tat aber scheint unser gesamtes Universum aus ursprünglich einheitlichem Material zu bestehen, das lediglich als Form sich wandelt, als wesentlicher Inhalt ("Ding an sich"?) jedoch "beharrt" und sich in Ursache und Wirkung durchweg aufhebt.



(FN6.1) Für alle bekannten Teilchen existieren Antiteilchen, die in ihren Eigenschaften den Teilchen genau entgegengesetzt sind. Ein Antielektron z.B. ist positiv geladen. Und: Auch die Zeitrichtung der Antiteilchen ist der ihrer äquivalenten Teilchen entgegengesetzt. Sie bewegen sich "rückwärts" durch die Zeit.

(FN6.2) Hier gelten weder die Newtonsche noch die Quantenmechanik und auch die Relativitätstheorie bleibt vermutlich "außen vor".

(FN6.3) Bzw. Wenn überhaupt, denn nur in Form von sog. Bosonen ("Virtuelle" Teilchen, die für den Austausch von Energie zwischen Materieteilchen (sog. Fermionen) zuständig sind. Es stellt sich allerdings die Frage, zwischen WAS denn hier ein Austausch hätte stattfinden können und wie denn ein solches Boson hätte beschaffen sein müssen. Empirisch nachgewiesen sind als Bosonen zunächst das Photon, dessen besonderes Merkmal ist, keine Ruhemasse zu besitzen und sich IMMER mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Es kann nicht "anhalten" ohne aufzuhören zu existieren. Ferner das sog. intermediäre Vektorboson, dessen Masse etwa einhundert mal größer ist, als die eines Protons oder Neutrons und dessen Funktion es ist, (Bindungs)Kräfte zwischen diesen zu übertragen sowie das Gluon, das die Bindungskräfte zwischen Quarks übertragt. Es wird unterstellt, dass auch die Gravitation durch ein solches Boson, das allerdings bislang nicht nachgewiesen werden konnte, übertragen wird.

(FN6.4) Auch die Physiker sind hier "vorsichtig" und sprechen lieber von "Kompakt", "Eng" und "Heiß".

(FN.6.40) Also - möglicherweise - wie Materie - auch "nur" andere Energiezustände?

(FN6.5)Also: Mit dem Umschlagen von Qualität in Quantität?

(FN6.6)Dieser Zustand wäre definitiv erreicht, wenn sich alle Energie in Materie verwandelt hätte. Ein solcher Zustand unendlicher Materie muss uns aber genauso rätselhaft bleiben wie ein Zustand unendlicher Energie, zumal wir empirisch keine Materie kennen, in der nicht Energie enthalten wäre, die ihr erst Stabilität verleiht.(Stichwort: Intermediäres Vektorboson). Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Materie bei Eintreten eines signifikanten Energie/Materie Ungleichgewichtes kollabiert und erneut in den Zustand unendlicher Energie überführt wird.


7. Vierter Diskurs - Wollen top

7.1 Ursprung des Wollens top

In "Die Welt als Wille und Vorstellung" schreibt Schopenhauer: "Alles Wollen entspringt aus Bedürfniß, also aus Mangel, also aus Leiden." Die Welt als Wille und Vorstellung S..211

Wenn man jedoch den Begriff des Leids streng formal und von allen Empfindungen gereinigt betrachtet, kann man ihn etwa folgendermaßen definieren: Das Erlittene ist das, was außerhalb des eigenen Wollens und der eigenen Macht liegt: das, was einem zustößt, das, was man sich nicht selbst verschafft hat. Nach einer solchen Fassung erlitte man nicht nur Schmerz, sondern auch Glück, denn das Glück tritt nicht in Folge eigener Bemühungen (obgleich es im Volksmund heißt: "Das Glück des Tüchtigen") ein, sondern es fällt einem zu. Ein kleines Beispiel: Man kann sich wünschen in einer Lotterie zu gewinnen, aber man kann es nicht ernstlich wollen, denn man kann den Gewinn nicht planmäßig anstreben.

7.2 Richtung des Wollens top

Schopenhauer selbst schreibt: "Wenn ein Mensch will, so will er auch Etwas: sein Willensakt ist allemal auf einen Gegenstand gerichtet [...]". SW S.186
Dem ist zuzustimmen, wenn auch mit gewissen Einschränkungen: Alles Wollen zielt primär auf Änderung von Zuständen und erst in zweiter Linie auf Gegenstände, die letztlich nichts anderes als die "Verkörperung" bestimmter Zustände sind. Gewollt werden kann aber nur das noch nicht Verwirklichte - der andere mögliche Zustand.(FN7.1) Die Richtung des Wollens erstreckt sich also in Raum und Zeit. Darüber hinaus ist alles Wollen ein Subjekt-Objekt-Verhältnis. Es stellt sich stets die Frage: "Wer will Was?" Ein solches Wollen ist folglich nur unter den Bedingungen voll durchgebildeter Kausalität möglich: Etwas muss erscheinen oder vorgestellt werden, in einem Kontext, der transformierbar ist. Es muss Bestimmungen geben, damit überhaupt gewollt werden kann. Man könnte es vielleicht so sagen: Das Da-Sein(FN7.2) ist Bedingung des Wollens, welches wiederum Bedingung des Werdens ist.
 

7.3 Wünschen und Wollen top

"[...] solange [d]er [Willensakt] im Werden begriffen ist, heiß er Wunsch , wenn fertig Entschluß; daß er aber dies sei, beweist dem Selbstbewußtsein erst die Tat : denn bis zu ihr ist er veränderlich." SW S.188f.
Gewollt wird das durch folgerichtiges Denken und Handeln aus eigener Kraft Erreichbare, also das im unmittelbaren Möglichkeitsraum sich Befindende, das, dessen man sich aus eigener Kraft bemächtigen kann (d.h. das sehr Wahrscheinliche). Gewünscht wird überdies ebenso das im allgemeinen Möglichkeitsraum liegende - das uns zufallen Könnende (d.h. das weniger Wahrscheinliche), also das, was wir nicht allein durch eigene Initiative verwirklichen können. Man kann sich, um das Beispiel noch einmal zu bemühen, wünschen, im Lotto zu gewinnen - man kann es aber nicht wirklich wollen, da es keinen Weg gibt, dieses Ziel durch systematische Handlungen zuverlässig zu erreichen. Der Wunsch kann sich also auch auf bloß "Erleidbares" erstrecken. Andererseits kann der Wunsch mitunter dem Willen im Wege stehen - das an sich aus eigener Anstrengung Verwirklichbare bleibt dann "unbehandelt".

Der Wunsch hat also keineswegs zwingend den Entschluss zur Folge. Ein Entschluss muss aber in den Tatversuch übergehen, da er sonst nur Überlegung bliebe. Somit enthält jedes bewusste Tun einen Entschluss. Es gibt allerdings auch den bedingten Entschluss: "Wenn die und die Umstände eintreten, dann werde ich so und so handeln".

Sowohl das Wollen, als auch der Entschluss "bewegen" sich durch Zeit und Raum: sie können nur auf in der Zukunft liegende, greifbare Bestimmungen angewandt werden. Es ist somit äußerst schwer nachvollziehbar, wie es etwas außerhalb von Zeit und Raum Liegenden möglich sein soll, auf diese Bedingungen einzuwirken. Das ändert freilich nichts daran, dass, wenn sich für jeden einzelnen Willensakt Ursachen angeben lassen, von einem freien Willen kaum die Rede sein kann - bestenfalls von einem gelegentlich unbestimmten.

Im Leiden laufen wir dem Sein nach - im Wollen und Handeln sind wir ihm voraus - Wir treffen es so aber nie exakt.

Man könnte den Willen auch positiv fassen als suchend, nicht als fliehend: als den Willen zur (größeren) Lust. Im Übrigen ist es ja keineswegs so, dass wir nur am von uns Gewollten Lust empfänden. Auch das Zufällige, Überraschende, das wir vielleicht gar nicht wollen, aber erleiden, ist oft genug geeignet uns Befriedigung zu verschaffen.



(FN7.1)Das gilt auch wenn man einen Zustand erhalten will, denn auch das Erhalten bezieht sich auf künftige Zustände.

(FN7.2) Was immer "das Sein" auch sein mag, der Wille scheint es nicht zu sein.


8. Bedingung oder Willkür? top

Aus der Prämisse, dass der Wille unfrei sei, folgt keineswegs, dass durch diese "Unfreiheit" des Wollens Alles vorherbestimmt wäre. Gewollt werden kann nur Bekanntes (Auch Unentdecktes wird als entdeckbar vorausgesetzt). Da ein Mensch im Laufe seines Lebens immer mehr kennen lernt, lernt er auch immer mehr wollen. Je mehr er aber kennt, desto mehr muss er entscheiden, was er will, da die Menge des Wünschbaren, die des zu gegebener Zeit Realisierbaren zunehmend übersteigt. Das heißt, jenseits der - hier einmal als gegeben genommenen - Gewissheit, dass ein bestimmtes Ereignis ein bestimmtes Wollen auslöst, steht noch nicht fest, welches Ereignis aus einem Kontext mehrerer Möglichkeiten schließlich den Willen bestimmen wird. Und mit der wachsenden Zahl von Möglichkeiten ist nicht permanent kategorisch auszuschließen, dass sich unter diesen zwei gleich stark gewollte befinden, von denen nur eine realisiert werden kann. Es kann zu Situationen kommen, in denen man sich gewissermaßen selbst dem Zufall überlässt, weil man weder in A noch in B einen klaren Vor- oder Nachteil entdecken kann und am liebsten eine Münze werfen würde, letztlich also mut- oder unwillig seine Entscheidung trifft. Ein solcherart relativ unfreier Wille entspricht folglich keineswegs totalem Determinismus - denn was dem Wollen zu Gebote steht, ist letztlich, wie ja auch Schopenhauer feststellt, doch zufälliger Natur.

Hier kommt die "wesentliche Bestimmung" des Menschseins, vernunftbegabt zu sein und über die Fähigkeit zu Wenn-Dann- und Warum-Operationen zu verfügen zum Tragen: Das Vermögen des Menschen Kausalität zu imaginieren, indem er die in Begriffe gekleideten Vorstellungen mit Hilfe bloßer Grammatik durch Benennen (Unterscheiden) und Verknüpfen (Vereinigen) von Dingen (Nomina), durch Geschehen (Verben) und Bedingungen (Konjunktionen) in gleichsam virtuelle Kausalbeziehungen setzt, wodurch der Bereich des ihm Menschenmöglichen erweitert wird und sein Handlungsraum sozusagen einen virtuellen Vorhalt bekommt. Der Mensch ist so fähig den Zufall in Notwendigkeit zu transformieren, indem er dem weiteren Lauf der Dinge eine Form (vor)gibt. Etwas wollen, heißt schließlich auch: Nach der Zukunft greifen, denn was wir wollen, eignen wir uns eigentlich vorzeitig an. Wir haben eine Vorstellung davon, was sein wird, wenn wir es erreicht haben werden. Wir können uns Ziele setzen und diese planvoll anstreben um sie zu verwirklichen. Ohne Kausaldenken (und damit ohne Notwendigkeiten) wäre so etwas gar nicht möglich. Der Mensch ist nicht nur in der Zeit, er ist in Zeiten.

Anders sieht die Sache aus, wenn man nicht an Kausalität, sondern an Schicksal (Kismet) glaubt: Hier wäre selbst der freieste Wille vollkommen sinnlos. Wenn es keine Kette von Ursachen, sondern eine unendliche Anzahl von einzelnen Verursachungen aus einem einzigen Grund (Gott) gibt, die nur deswegen folgerichtig erscheinen, weil es dem Verursacher so gefällt, und nicht, weil sie notwendig von einander abhängen, dann nutzt alles Wollen nichts, da eben nichts notwendig als Folge eines Grundes, sondern alles notwendig nach Belieben des Verursachers (die Wege des Herrn aber sind unergründlich) geschehen würde. Kurz: Die Welt ist deswegen veränderlich, weil es Notwendigkeiten gibt(FN8.1), weil es Wenn/Danns gibt, die im Vorhinein erkennbar sind und die man deshalb herbeiführen oder vermeiden kann. Wäre das anders, dann bliebe nur die Hoffnung auf Gnade, zwei Begriffe, bei denen es sich wohl nicht ohne Grund um Zentralbegriffe der Weltreligionen handelt.

Etlichen Religionen, aber auch nichtreligiösen Weltanschauungen, gilt der Wille (das Gelüst, die Begierde) ohnehin nicht als Quelle der Freiheit, sondern der Unfreiheit. Hier müsste freiwillig eigentlich nicht mit aus freiem Willen, sondern mit frei von allem Willen übersetzt werden. Deshalb heißt es in den Zehn Geboten wohl auch nirgends "du kannst".

In der jüdisch christlichen Lehre wird dem menschlichen der göttliche Wille gegenübergestellt, welchem als dem stärkeren gehorcht werden muss. Furcht ist das entscheidende Element dieser Moral. Unfreiheit wird hier zum ethischen Ideal.

Im Buddhismus gibt es diesen Unterschied nicht. Vielmehr wird dem Willen, ähnlich wie bei Schopenhauer, Erkenntnisunfähigkeit attestiert: Der Wille weiß nicht zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Es wird aber davon ausgegangen, dass er das Böse nicht wirklich wollen kann, er muss lediglich (auf)geklärt werden.

"Wäre das Leben so beschaffen, daß es unabhängig von Ursachen und Voraussetzungen entstünde und ohne einen über es hinausreichenden ununterbrochenen Zustand endete, dann hätten wir keine Chance zu entfliehen. Und wenn dies zuträfe, dann sollten wir nach hedonistischen Grundsätzen leben. Aber wir wissen, dass Leiden etwas ist, das wir nicht wirklich wollen: wenn es möglich ist völlige Freiheit davon zu erlangen, dann lohnt es sich diese Freiheit zu erringen." Dalai Lama 1996 S.120
Bemerkenswert ist, dass das Kausalgesetz sich hier auch auf das Metaphysische erstreckt. Dass es Kausalität auch und gerade im Verborgenen gibt, ist Voraussetzung für die spirituelle Befreiung des Individuums.

Die Stoa erklärt Freiheit als die Einsicht in das Notwendige. Selbst gewählter Gehorsam befreit vom Gefühl des Zwanges.

"Im freien Gehorsam besteht die einzigartige Größe des Menschen, "Gott zu gehorchen ist Freiheit." (Seneca)." Eucken 1919 S.86
Im Übrigen hat, nach stoischer Lehre, der Mensch das Privileg, nicht leben zu müssen, sondern leben zu können. Er kann als einziges Wesen das Ende seines Lebens selbst bewusst bestimmen. Das Tier muss leben, es muss erdulden, was immer ihm zufällt. Der Mensch kann sich diesem Zufall entziehen und seinem Leben planvoll ein Ende setzen. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass eine solche Form der Freiheit von Schopenhauer strikt abgelehnt wird.



(FN8.1 ) So ähnlich hat das wohl auch Friedrich Engels gesehen: "Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung." Engels 1959 S.139


9. Schluss: Gibt es eine spezifisch menschliche Art der Freiheit? top

Mensch sein, das heißt vor allem auch kulturdeterminiert zu sein. Kultur erbt man aber nicht, man muss sie lernen. Und das wiederum besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass der Mensch seine Überlebensfähigkeit nicht unmittelbar aus seinen natürlichen Anlagen sondern zu großen Teilen durch soziale Interaktion gewinnt. "Natürlich" bleibt der Mensch ein Teil der Natur, aber er besitzt praktisch keine "Naturwüchsigkeit" mehr. Selbst seine Irrationalität ist kulturell überformt. Wenn man zum Beispiel spontane Gefühlsregungen, die jeden Menschen überkommen können, betrachtet, wie Lieben, Hassen, Ekel, Angst etc., dann ist klar zu sehen, dass solcherlei Gefühle zur quasi urwüchsig natürlichen Mitgift eines jeden Menschen gehören. Was er aber lieben oder hassen kann, wovor er Ekel verspürt, was ihn ängstigt, was er also wollen oder meiden wollen kann, das ist ganz wesentlich abhängig von der Kultur innerhalb der er heranwächst. Die überall vorhandenen Nahrungs-Tabus geben hierfür ein gutes Beispiel ab. Rational betrachtet lässt sich ohne weiteres feststellen, dass alles, was je irgendeinem Menschen zur Nahrung diente, ihm Genuss bereitete und taugte, ihn am Leben zu halten, auch von jedem anderen mit gleichem Genuss und Erfolg verzehrt werden kann. Dennoch gibt es nur sehr wenige Menschen, die in der Lage sind von dieser rationalen Erkenntnis auch praktischen Gebrauch zu machen. Und die stärkste Hemmung ist nicht etwa das Verbot, sondern der kulturdeterminierte Ekel. Deshalb spielt es keine Rolle, ob diese Tabus religiös oder rational begründet werden. Folgt man Norbert Elias, so ist der Mensch ohnehin kein rationales, sondern ein rationalisierendes Wesen - er sucht Gründe und findet sie - und auch Religion liefert vor allem Gründe.

Gründe liefert neben der Religion aber auch die Politik. Grund genug sich sich der Frage der politischen Freiheit zuzuwenden, die von Schopenhauer der physischen zugerechnet und wie folgt definiert wird: "Auch ein Volk nennt man frei, und versteht darunter, daß es allein nach Gesetzen regiert wird, diese Gesetze aber selbst gegeben hat: alsdann befolgt es überall nur seinen eigenen Willen." SW S.178
Seltsamerweise wird hier dem Willen, der bei Schopenhauer ansonsten nur in zwei Ausprägungen auftritt, nämlich entweder als außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität liegendes "Ding an sich" oder als das in der "Welt als Vorstellung" sich entäußernde principium individuationis eine dritte - kollektive - Form zugedacht, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die einzelnen Individuen, aus denen ein solches Kollektiv besteht, ihren Willen hinsichtlich der Gesetzgebung tatsächlich haben geltend machen können. Immerhin bleibt zu bedenken, dass ein Volk aus lauter zufällig ihm Zugehörigen besteht. Man kann nicht Mitglied einer solchen Gemeinschaft sein wollen, ehe man es bereits geworden ist. D.h. man wird immer in Bedingungen hineingeboren, die man a priori nicht gewollt haben kann und die einem - auch ohne Gewaltanwendung - a posteriori stets mehr oder weniger aufgezwungen werden. Selbst eine stillschweigende Einwilligung in die gegebenen Verhältnisse bedeutet noch lange nicht, dass sie frei gegeben wurde. Allein Erziehung und Konvention sind hinreichend geeignet, den Einzelnen von einer kritischen Betrachtung der vorgegebene Verhältnisse (und Verhaltensweisen!) sowie der Äußerung eventuell aufkommenden Unwillens abzuhalten. Eine Staatsangehörigkeit erwirbt man nur im Ausnahmefall aus freien Stücken, in der Regel "erleidet" man sie.

Zivilisation insgesamt ist ein Gebilde von künstlich geschaffenen Zwängen, die nur sehr beschränkt frei gewählt oder gestaltet werden können. Der zivilisiert Geborene - ein unterworfen Geborener? Zu den natürlichen Bedingungen, ohne die Leben nicht möglich ist und denen es sich schon deshalb nicht entziehen kann, gesellen sich kulturelle, in die der Mensch geboren wird, eben ohne sich a priori gegen sie oder für andere entscheiden zu können. Er kann versuchen, sie a posteriori zu ändern, wenn auch, da er wesentlich durch sie präformiert ist, in nur begrenztem Umfang. Andererseits können nur auf solche Weise die Grenzen der natürlichen Bestimmungen überwunden werden. Gewisse Naturnotwendigkeiten, werden so zu Naturmöglichkeiten.

"Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen, die höheren Geister sind von Anfang an, was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du allein Mensch, hast eine Entwicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast die Keime des allartigen Lebens in dir." Pico de Mirandola zitiert nach Ernst Bloch 1977 S.15
Wenn es überhaupt spezifisch menschliche Freiheit gibt, dann müsste diese am ehesten wohl in der Erkenntnis von Notwendigkeiten, d.h., im kognitiven Erfassen von Kausalität und der Möglichkeit auf deren Gesetzmäßigkeit einwirken und dem Gang der Dinge eine andere Wendung gebenzu können gesucht werden. Denn das Nichtnotwendige, Unbestimmte und Unbegreifliche bildet das Jenseits einer Welt, in der der Mensch als bestimmende Bestimmung Bestimmtes bestimmt. Jede Beschreibung dieses Jenseits würde es quasi aufheben. Das Unbestimmte zu bestimmen würde bedeuten, es ins Diesseits zu überführen. Selbst wenn man dem menschlichen Willen keine Freiheit zugestehen könnte, so bliebe der Mensch, so er denn mehr als nur die Summe seiner Bestimmungen wäre, doch der Freiheit fähig, denn um (frei) entscheiden zu können bedarf es der Unterscheidbarkeit; Möglichkeiten liegen nur in der Verschiedenheit.

Im Übrigen stellt sich die Frage, ob ausgerechnet ein Wille wollen kann - wie ohnehin Substantivierungen oft zu Unklarheiten führen - sie unterstellen eine illusionäre Beständigkeit. Eigentlich müsste man dann auch fragen, ob der Glaube glaubt, das Sehen sieht, das Leben lebt, das Sprechen spricht etc., und damit, ob der Wille denn wirklich das ganze Wesen unseres "Ich" oder doch nur ein Teil desselben sei.

Ein Skeptiker könnte immerhin behaupten, der Glaube sei dem Willen vorangestellt, so dass wir glauben müssten, der Wille, der den Glauben eigentlich nur camoufliere, sei der eigentliche Kern unseres Selbst.

Alles in allem liegt die spezifisch menschliche Freiheit vielleicht gerade darin, dass sie stets von Neuem errungen und behauptet werden will, was durch bewusstes und planmäßiges Handhaben der nicht zu leugnenden Notwendigkeiten geschehen kann. So gesehen, wäre der Mensch gerade nicht frei geboren, was ohnehin ein bloßer Euphemismus ist. Er wäre aber mit dem Recht auf Freiheit geboren, unfrei zwar, aber mit der Fähigkeit Freiheit zu wollen und Freiheit erringen zu können wenn er, mit Kant zu sprechen, den Mut besitzt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sapere aude.


10. Literatur top

Ernst Bloch. Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1977

Dalai Lama. Der Weg zur Freiheit. Knaur. München 1996

Dorn-Bader. Physik in einem Band. Schroedel. Hannover 1976

Friedrich Engels. Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("Anti Dühring"). Dietz Verlag Berlin 1959

Rudolf Eucken. Die Lebensanschauungen der grossen Denker. Vereinigung Wissenschaftlicher Verleger. Berlin und Leipzig 1919

Bodo Hamprecht. Der Dualismus von Willensfreiheit und Determiniertheit menschlichen Handelns. Script zur Ringvorlesung "Energie, Umwelt, Gesellschaft". Freie Universität Berlin. 31.01. 2001 (www.physik.fu-berlin.de/~hamprech/Freiheit.pdf 14.09.2003. 19:50h)

Werner Heisenberg. Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik. DTV Verlag (Hrsg.). Sprache und Wirklichkeit, DTV, München 1967

J.J. Rousseau. Der Gesellschaftsvertrag "Contrat Social". Reclam. Stuttgart 1958

Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Otto Hendel Verlag (Hermann Hilliger). Berlin (Antiquarisch um 1900)

Arthur Schopenhauer. Sämtliche Werke. 5. und 6. Band. Verlag A. Weichert Berlin (Antiquarisch um 1900)

Helmut Seidel. Von Thales bis Platon. Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Dietz Verlag. Berlin 1980

Volker Spierling.(Hrsg.). Arthur Schopenhauer. Metaphysik der Sitten. Aus dem Handschriftlichen Nachlass. R. Piper GmbH&Co KG München 1988


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